ZUSAMMENFASSUNG
Im Jahr 1781 erscheint Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant. Im Gesamtwerk von Kant unterscheidet man zwei Zeiträume, einen vorkritischen Zeitraum und einen nachkritischen Zeitraum, wobei dieses Werk als Zäsur fungiert. Um den Schwierigkeiten die dieses Werk erfährt entgegen zu treten, publiziert er zwei Jahre später Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können mit einer Zusammenfassung der schwierigsten Passagen der Kritik. In 1787 erscheint eine zweite Auflage der Kritik der reinen Vernunft, worin die unzugänglichen Teile überarbeitet worden sind. In 1788 erscheint die Kritik der praktischen Vernunft und in 1790 die Kritik der Urteilskraft. In Deutschland braucht es einige Zeit, bis das Werk Kants die volle Beachtung findet, die meisten Zeitgenossen finden das Werk ziemlich unverständlich. Erst bei der Erscheinung der Kritik der praktischen Vernunft wächst die richtige Aufmerksamkeit.
Schon innert kurzer Zeit, etwa um 1790, beginnt die kritische Philosophie auch in den Niederlanden Form an zu nehmen. Besonders die drei vorher genannten Kritiken waren wichtig für die rasche Bekanntschaft Kants in den Niederlanden am Ende des 18. Jahrhunderts. Der Erste, der als Vorkämpfer des Kantianismus auftritt, ist Allard Hulshoff, besonders wegen seiner Bemühungen bei den Preisverhandlungen mit der Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen. Als wahrer Anführer zeigt sich Paulus van Hemert: Er gründet 1798 die erste nicht deutschsprachige Zeitschrift, welche vollständig der Kantischen Philosophie gewidmet ist, das Magazyn voor de critische Wijsgeerte en de Geschiedenis van Dezelve. Durch diese Publikation erhält die kritische Philosophie ein Forum in den Niederlanden. Während sechs Jahren, von 1798 bis 1803 wird diese Zeitschrift durch van Hemert herausgegeben. Die philosophische aber auch kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Zeitschrift sowie deren Einfluss auf die niederländische Kant-Rezeption ist jedoch noch kaum erforscht.
Nicht nur wurde Kants Denken um die Jahrhundertwende bei einer Vielzahl niederländischer Denker wohlwollend aufgenommen und stieβ es gleichzeitig bei anderen auf Widerstand, sondern es entwickelt sich ein niederländischer Kantianismus, einen Kantianismus der verhohlen aber leidenschaftlich nach den Idealen des remonstrantischen Predigers Van Hemert und des Freimaurers Kinker geformt wird.
Die Kant-Rezeption war in den Niederlanden bereits Thema einer Reihe kurzer Studien. Diese Studien umreiβen die Rezeption entweder bloβ in groben Zügen oder sie vertiefen sich in nur einen Aspekt. Ein ausführliches Studium über dieses Thema lieβ bisher auf sich warten.
Die drei wichtigsten Personen innerhalb der niederländischen Kant-Rezeption, Hulshoff, Van Hemert und Kinker positionieren das noch kaum beschriebenen Magazyn ins Zentrum der niederländischen Kant-Rezeption: Es wird sowohl von Anhängern als auch von Gegnern als Symbol der Kantischen Philosophie betrachtet. Ein eindeutiges Bild vom Verlauf der Rezeption fehlt jedoch, schlimmer noch, man widerspricht sich, nicht nur heute sondern auch die Zeitgenossen von damals. So zeigt eine Abbildung von Smies und Marcus aus 1801 das Interesse an dem Kantianismus, als eines, das sich auszeichnet durch Langeweile und Mühsamkeit. Ganz anders jedoch zeigt sich dieses Interesse in der Biografie Klijns, wo die Rede ist von groβer Begeisterung, die viele Leute mitreiβt, wodurch der Hörsaal von Felix Meritis oft zu klein für alle Interessenten ist. Wyttenbach, Vertreter der ‘alten’ Philosophie, reagiert herablassend auf den Kantianismus und qualifiziert ihn als einen ‘Tumult’, der eh schon fast am Ende ist. Van Alphen, kein leidenschaftlicher Anhänger, denkt darüber ganz anders: Als er in 1799 erwägt sich persönlich in den Kantianismus zu vertiefen, behauptet er, dass dies gar nicht so einfach sei, weil der bereits eine ganze Bücherei umfasst. Auch Nieuhoff behauptet, über mehr als sechs Meter ‘Kantiana’ zu verfügen. Was war es also, ein Tumult oder eine Bewegung mit Literatur in einem Ausmaβ von über sechs Metern? Über den Aufstieg dieser Philosophie, die sowohl als einschäfernd wie auch als Tumult beschrieben wird, gleichzeitig jedoch eine ganze Bücherrei umfasst und ganze Hörsäle füllt, darüber handelt dieses Buch.
Ich gehe auf folgende Fragen ein: Welche Rolle spielt Van Hemert im niederländischen Kantianismus? Auf welche Weise kann der Kantianismus, so wie er in der Zeitschrift Magazyn auftritt, charakterisiert werden, sowohl nach Umfang als auch nach Inhalt, besonders in Hinblick auf den Aspekt Vernunft versus Offenbarung. Inwiefern ist die Popularisierung dieses Kantianismus eine Fortführung des Aufklärungsprojektes in den Niederlanden und warum ist der Widerstand so erbittert, umfassend und zäh? Zusammengefasst: Inwiefern kann ein Studium dieser Zeitschrift einen Beitrag leisten zu einem eingehenden Verständnis der philosophischen und kulturellen Umwälzungen, die den Zeitraum um 1800 charakterisieren?
Um diese Fragen beantworten zu können, zeichne ich zuerst die Kant-Rezeption auf, anschliessend beschreibe ich die Zeitschrift Magazyn sowohl formell als auch inhaltlich.
Es zeigt sich, dass der Kantianismus in den Niederlanden viel weiter und tiefer verwurzelt ist als bisher angenommen wurde. Nicht nur gibt Van Hemert drei Zeitschriften heraus (Beginzels, Magazyn und Lektuur), dringt der Kantianismus durch in Gesellschaften wie Felix Meritis, in der Freimaurerei wie in der Loge La Charité und in Zeitschriften wie De Recensent, ook der recensenten und der Schouwburg der in- en uitlandsche Letter- en Huishoudkunde, beide spezifisch gegründet mit dem Ziel den Kantianismus zu propagieren, sondern es hinterlässt auch Spuren in der Literatur, unter anderem in den Werke Kinker’s wie Alleven of de Wereldziel und Gedachten bij het graf van Kant. Als in 1807 in der Stadt Leiden ein Schiff mit Schieβpulver explodiert und viele Opfer fallen, geben die Gegner dem aufblühenden Kantianismus gerne die Schuld. Polemiken woran sich unter anderem Van Hemert, Bonnet, Feith, Kinker, Bilderdijk und Thorbecke wagen, kennen eine ungeahnte Schärfe, die beweist, dass die Kantische Philosophie viele berührt. ‘Schimpfen wie ein remonstrantischer Professor’ wird eine oft verwendete Redewendung. Gedichte von unter anderem Bilderdijk über Van Hemert, der einen Buckel hatte und über Kinker, der eine Lähmung hatte, suchen ihresgleichen, wenn es darum geht unter die Gürtellinie zu treffen.
In einem Intermezzo zeige ich, dass der niederländische Kantianismus von Bedeutung für dessen Verbreitung in England und in Frankreich gewesen ist.
Zentral in meiner Studie stehen die Beweggründe von Van Hemert und Kinker. Beide führen sie den Kantianismus in den Niederlanden mit einer versteckten Agenda ein. Van Hemert, als remonstrantischer Prediger, sieht den Kantianismus als Brecheisen um den misslungenen Versuchen einer Wiedervereinigung aller Protestanten (vor allem durch die Prediger Rogge und Van Rees in 1796) neues Leben ein zu hauchen. Kinker hingegen sieht ihn als eine Möglichkeit um die Weltbürgerschaft, Ziel der Freimaurerei, näher zu bringen. Beide versagen nach ihrem selbst gesetzten Maβstab.
Der Sokratische Krieg, der in den Niederlanden mit Bélisaire von Marmotel beginnt, der viele berührt und von höheren Gefilden unterbunden wird bevor das Feuer erloschen ist, konzentriert sich auf die schon lange vorherrschende Frage, ob die Offenbarung ein wesentliches Element des Christentums ist. Während Van Hemert fortwährend darlegt, dass die Vernunft und die Offenbarung identisch sind – er bezeichnet sie als zwei Seiten einer Münze – und Gegner dadurch einen Grund haben, ihn als Nicht-Christ zu betrachten, bekommt das Bild die Oberhand, dass van Hemert statt einer von Gott losgelösten Ethik eine gottlose Ethik propagiert.
Die gesellschaftliche Bedeutung des Kantianismus, treibt Van Hemert an, in 1815 eine andere soziale, philanthropische Arbeit im Maatschappij der Weldadigheid an zu nehmen: Er wird Sekretär. Als er 1825 stirbt, hat der philosophische Kantianismus, den er vordergründig propagiert, seine Stellung in der akademischen Welt erworben, aber eine Vereinigung des Protestantismus ist ferner denn je.
Kinker erfährt Widerstand aus der Freimaurerei, weil die Freimaurerei sich besonders der persönlichen Entwicklung widmet und Kinker sich gerade eine gesellschaftliche Veränderung wünscht. Auβerhalb der Freimaurerei verbindet man den Kantianismus derart stark mit der revolutionären konspirativen Freimaurerei, dass jedes Streben in dieser Richtung verdächtig wirkt.
Es ist die Ironie des Schicksals, dass Van Hemert und Kinker den Kantianismus nicht als Ziel sondern als Mittel betrachten: Wo Van Hemert den Kantianismus auf dem Altar der Remonstranten opfert, macht Kinker dies auf dem Altar der Freimaurerei.
Ein kurzes Wort zum Titel: ‘Kant-tekening’ heiβt im Deutschen Randbemerkung (‘kant’ bedeutet Rand, aber mit einer Majuskel ist es der Name Kants, ‘tekening’ bedeutet Zeichnung, Skizze) und ist natürlich ein Wortspiel auf das, was Van Hemert macht: er zeichnet im Magazyn eine bestimmte Form des Kantianismus. Von den vielen Debatten die Van Hemert geführt hat, waren die mit Wyttenbach am heftigsten. Beide benutzen häufig argumenta ad hominem und wenn Wyttenbach in einem Schreiben an seinen Freund Van Lynden, Van Hemert lächerlich machen will, beschreibt Wyttenbach ihn mit dem Terminus ‘horrearius’, post-klassisches Latein für ‘Lagermeister’. Aus diesem Grund habe ich diese abfällige Bezeichnung gewählt, so zu sagen als Spitzname und mit der Betonung auf den zweiten Teil der Zusammenstellung ‘Meister.’ Deshalb lautet der Titel:
‘KANT-TEKENING VAN EEN HORREARIUS’.